Warum wir über Incels schreiben

In folgenden drei Arti­keln geht es um Hass, Hetze und Schwanz­ver­gleiche. Aber nicht nur. 

Incels, das ist doch jene Gruppe von sexuell frustrierten Männern, die sich in Inter­net­foren zusam­men­rotten und gegen Frauen hetzen, oder? Diese Simpli­fi­zie­rung diktiert seit dem Toronto-Attentat vom 23. April diesen Jahres den medialen Kanon. Aber so einfach ist es eben nicht. Das ist einer der Gründe, warum wir uns entschlossen haben, dieser ominösen Gruppe, deren Selbst­be­zeich­nung eine Kurz­form für invol­un­tary celi­bate ist, für unfrei­willig Zöli­ba­täre also, drei Artikel zu widmen.

Wir haben das Thema aber auch aus einem schlich­teren Grund aufge­griffen: Es übte einen voyeu­ri­sti­schen Reiz auf uns aus, und wir wollten wissen, wie es um die Incel-Bewe­gung steht, nachdem der mediale Rummel wieder abge­flacht ist. In diese Inter­net­com­mu­nity einzu­tau­chen und uns (nach mehr­fa­chen high fives aus Stolz über unsere subver­sive Namens­fin­dung) als Lysi­strata und Holo­fernes auf der Online­platt­form Reddit, wo sich die Incel-Gemein­schaft in einem sehr aktiven Forum tummelt, einzu­speisen, war zuge­ge­be­ner­massen sehr aufre­gend. Als es Simon Muster dann auch noch schaffte, mit einem online sehr aktiven Schweizer Incel in Kontakt zu treten, konnten wir kaum glauben, dass die Gespräche über Sex, Sexua­lität und das erste Mal, die wir in den vergan­genen Wochen mit aller Inten­sität und Profes­sio­na­lität geführt hatten, nun in einen Höhe­punkt münden sollten.

Doch dieses Internet-Expe­ri­ment hätte ja gereicht. Drei Artikel wären da nicht nötig, mag so mancheR jetzt denken. Denn medialer Hype hin oder her: Der 23. April liegt bereits über zwei Monate zurück. Wieso ist es immer noch rele­vant, wenn irgend­welche Typen auf Reddit über Schwanz­längen streiten?

Incels waren für uns schon vor Beginn der Recherche nicht einfach irgendein weiteres Inter­net­phä­nomen, welches mitleidig und mit herab­las­senden Bezeich­nungen wie etwa „unter­fickte Männer“ (watson.ch) wegge­lacht werden kann – zumin­dest dann nicht, wenn man das Phänomen in einen grös­seren Kontext setzt. In zahl­rei­chen Gesprä­chen mit Psycho­lo­gInnen und (Sexual-)PädagogInnen wurde unsere Annahme bestä­tigt: Incels sind eben nicht nur eine frustrierte Minder­heit, sondern die destil­lierte Essenz einer gesell­schaft­lich tradierten und poli­tisch nicht nur gedul­deten, sondern zuneh­mend auch bedienten Realität.

Es ist eine Realität, die sich genauso in Inter­net­foren finden lässt, wie in unserem Alltag. Während dieser Recherche musste ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Anzeige machen – sie rich­tete sich gegen einen mir wild­fremden Mann, der mich online aufs Übelste beschimpfte. Dieser banale Vorfall ist genauso Ausdruck dieser gesell­schaft­li­chen Realität wie die Tatsache, dass sieben Mal mehr Frauen in der Schweiz durch häus­liche Gewalt ihr Leben verlieren als Männer (BFS). Oder dass ein Mann der mehr­fa­chen sexu­ellen Belä­sti­gung und Verge­wal­ti­gung beschul­digt – und trotzdem Präsi­dent der Verei­nigten Staaten von Amerika werden kann.

Simon Musters Text, der übri­gens in knapp 14’000 Zeichen ganz ohne den Namen Trump auskommt, befasst sich mit den kultu­rellen Strö­mungen, die den Nähr­boden für unfrei­willig zöli­ba­täre Inter­ne­t­hetzer bestellen. Das Portrait über den 17-jährigen Reddit-Nutzer lori171717 zeichnet hingegen ein Bild dieser Realität aus der Perspek­tive eines jungen Mannes, der sich selbst als unfrei­willig jung­fräu­lich bezeichnet und der nebst wüsten sexi­sti­schen und xeno­phoben Hass­ti­raden vor allem eines äussert: Verun­si­che­rung. Mit dieser Verun­si­che­rung in Bezug auf das gesell­schaft­lich quasi inexi­stente Konzept von männ­li­cher Jung­fräu­lich­keit befasst sich der letzte Text, der eine Brücke schlagen soll zwischen Theorie und Praxis, Sexua­lität, Psycho­logie, indi­vi­du­eller Scham und kollek­tivem Antifeminismus.

Um also noch einmal die Frage vom Anfang aufzu­greifen: Warum Incels? Das Internet mit seinen Foren, Shits­torms und Trollen mag zwar zuweilen wie ein rechts­freies, dezen­trales und isoliertes Biotop für Hass und Hetze daher­kommen – doch was dort Ausdruck findet, ist unserer Meinung nach auch offline von gesell­schaft­li­chem Belang.

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