Hey Incels, was soll das mit den Jungfrauen?

Beim Thema Jung­fräu­lich­keit geht es um Macht, um Ausgren­zung und um sehr viel heisse Luft. Die Incel-Bewe­gung beruft sich auf dieses Konzept, wirk­lich viel damit zu tun hat sie im Kern aber nicht. 
Was soll die Obsession mit Jungfräulichkeit? (Foto: Jon Tyson / Unsplash)

„Wenn hesch s’erscht mal?“ Inner­halb der Incel-Commu­nity, auf den Diskus­si­ons­foren von Reddit oder Incels.me wäre diese Frage ein rotes Tuch. Denn die Männer, die sich als unfrei­willig zöli­batär bezeichnen, defi­nieren sich über genau dies: ihre Jung­fräu­lich­keit. Jung­fräu­lich­keit, ist das nicht ein alter Zopf? Und warum wird dieses veral­tete Konzept gerade von einer Gruppe von Männern online aufgegriffen?

Von Göttinnen zu unter­jochten Frauen

Jung­fräu­lich­keit, wie wir sie heute kennen, ist ein Mythos. Am Anfang dieses Mythos steht eine Schöp­fer­göttin, welche in den Mytho­lo­gien einiger Früh­kul­turen in unter­schied­li­cher Gestalt immer wieder auftaucht. Ohne männ­liche Beihilfe kreiert sie den Kosmos aus sich selbst heraus. Auf sie zurück­zu­führen sind etwa die gött­li­chen Jung­frauen der grie­chi­schen Mytho­logie: freie, mäch­tige Frauen, selbst­be­stimmt und Herrinnen über ihre Körper.

Die jung­fräu­liche Ehefrau, die unreine Nicht-Jungfer – das alles kam erst viel später hinzu und bestimmt seither mal mehr mal weniger das Narrativ. Lange war die jung­fräu­liche Eheschlies­sung eine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Mehr noch: Das Recht zemen­tierte das Konzept. Wenn die Frau in der Hoch­zeits­nacht nicht blutete, war das ein legi­timer Grund, die Ehe wieder aufzu­heben. Jung­fräu­lich­keit als Druck­mittel gegen Frauen besteht bis heute welt­weit fort.

Riten, Realität und die Qualität einer Frau

Heute ist die tradi­tio­nelle Vorstel­lung des Hymens als zu durch­ste­chendes Häut­chen vor dem Mutter­mund wissen­schaft­lich wider­legt. Das Konzept der Jung­frau hält sich jedoch fest in unserem Alltags­be­wusst­sein – von der schu­li­schen Aufklä­rung bis zur Porno­ka­te­gorie. Auffällig bei dieser Tradie­rung: Jung­fräu­lich­keit ist ein exklusiv weib­li­ches Konzept. Im Diskurs um die „Entjung­fe­rung“ scheinen Objekt und Subjekt klar gesetzt: Die Frau wird entjung­fert, pene­triert. Der Mann hingegen ist das Subjekt: Er entjung­fert. Was passiert, wenn sich diese Rollen wandeln, wenn ein Mann durch eine Frau entjung­fert wird? Gibt es das über­haupt, die männ­liche Jung­frau? Eine schnelle Online­suche zeigt: Nicht wirk­lich. Abge­sehen von ein paar Blog­ein­trägen dreht sich fast jeder Artikel, so eman­zi­pa­to­risch und aufge­klärt er auch daher­kommt, um die jung­fräu­liche Frau.

„Bei Männern fehlt schon rein histo­risch der Ritus“, sagt die Psych­ia­terin und Psycho­the­ra­peutin D.D., welche ihren vollen Namen aus Respekt vor ihren Pati­en­tInnen, mit denen sie solch heikle Themen disku­tiert, zurück­halten möchte. „Der erste Samen­er­guss ist nicht mit dem biss­chen Blut gleich­zu­setzen, das beim ersten unbe­hol­fenen Sex even­tuell auf dem Laken landet.“ Jung­frau kann ein Mann laut gesell­schaft­li­chem Bewusst­sein nur dann sein, wenn er zwischen dem 24. August und dem 23. September geboren wurde. Der Mann, der noch keinen Sex hatte, ist aufgrund des Mangels einer Bezeich­nung und einer Konzep­tua­li­sie­rung dagegen unsichtbar.

„Ich erlebe Jung­fräu­lich­keit als ein grosses Thema, aber es wird ausschliess­lich auf Frauen bezogen. Es ist dann quasi ein Quali­täts­merkmal“, erzählt die Sozi­al­päd­agogin J.O, die eben­falls nicht mit ihrem vollen Namen zitiert werden möchte. „Viele junge Männer, mit denen ich arbeite, fällen eine Unter­schei­dung zwischen Frauen, mit denen sie Sex haben, und solchen, mit denen sie eine Bezie­hung führen möchten. Letz­tere sollten dann Jung­frau sein.“ Sexu­al­päd­agoge Fedor Spirig von S&X Luzern, der Fach­stelle für Sexu­elle Gesund­heit Zentral­schweiz, teilt diese Erfah­rung: „Wenn das Thema aufkommt, dann ist es weib­lich konno­tiert. Es geht fast exklusiv um Frauen und oft um Unbe­rührt­heit, Besitz und Wert.“

Schäme dich, Jung­frau! Oder rede wenig­stens nicht darüber.

Die Online­suche zeigt auch: Wird von männ­li­chen Jung­frauen gespro­chen, dann nur mit dem Ziel, diesen ‚Zustand‘ möglichst schnell zu beheben. Eine echte Diskus­sion findet nicht statt. Statt­dessen gibt es Tipps, Tricks – und ein biss­chen Mitleid.

Männ­liche Jung­fräu­lich­keit: Ein Zustand, den es so schnell wie möglich zu beheben gilt- zumin­dest, wenn es nach der Webiste männlichkeit-stärken.de geht.

Das Konzept Jung­frau ist ein Konzept der Scham und der Ab- oder Ausgren­zung. Für Frauen ist es scham­voll, die Jung­fräu­lich­keit zu früh oder an den Falschen/die Falsche zu verlieren. Für Männer ist es scham­voll, sie nicht abzu­legen. „Beim Thema Jung­fräu­lich­keit erlebe ich beson­ders bei jungen Männern eine doppelte Scham“, erzählt Psycho­the­ra­peutin D.D.: „Die Scham, über keine sexu­ellen Erfah­rungen zu verfügen, und die Scham, über diese fehlenden Erfah­rungen zu reden.“ Sexu­al­päd­agoge Spirig rela­ti­viert: „Bei Jugend­li­chen ist die Scham prin­zi­piell natür­lich stärker, aber gene­rell gilt doch in unserer Gesell­schaft: Keinen Sex oder keine Bezie­hung zu haben, ist ein schwie­riges Thema – auch für Erwach­sene. Abwei­chungen von dieser Norm werden eher negativ bewertet. Das kriegen dann natür­lich auch junge Erwach­sene mit.“

„Jung­fräu­lich­keit ist bei jungen Männern kaum ein Thema“, sagt der Jugend­psy­cho­loge Armin Kunz. „Es geht vor allem darum, wer sein erstes Mal schon hatte und wer nicht. Eine sorg­fäl­tige persön­liche Ausein­an­der­set­zung mit der Thematik erlebe ich sehr selten.“ Sexu­al­päd­agoge Spirig teilt diese Erfah­rung: „Männ­liche Jung­fräu­lich­keit ist in Gesprä­chen eigent­lich inexi­stent. Fragen dazu, ob Jungs entjung­fert werden können, habe ich in 10 Jahren Tätig­keit maximal fünfmal gehört.“

Die fehlende Ausein­an­der­set­zung erlebt auch Sozi­al­päd­agogin J.O.: „Ganz junge Männer reden manchmal offen über Unsi­cher­heiten und stellen Fragen dazu, aber ab 15 wird das Thema eigent­lich nicht mehr ange­spro­chen.“ Weil das Durch­schnitts­alter für den ersten Sex in der Schweiz bei 17 Jahren liegt und die Varianz natur­ge­mäss gross ist, entsteht ein Vakuum. Wohin mit der Verun­si­che­rung, wenn nicht darüber gespro­chen werden kann?

Dass der Stel­len­wert der ersten sexu­ellen Erfah­rung so hoch ist, sei ein Abbild unserer Gesell­schaft, meint Sexu­al­päd­agoge Spirig: „Der erfolg­reiche Mensch hat früh und viel Sex, Sex ist ein Status­symbol.“ Da sich eine aktive Sexua­lität jedoch auch mit fort­schrei­tendem Alter nicht von alleine ergibt und kein gesi­chertes Anrecht darauf besteht, wie es in manchen Incel-Foren verlangt wird, entsteht eine Diskre­panz, die letzt­end­lich in Neid umschlagen kann.

Jung­fräu­lich­keit, Macht und eine grosse Klappe

Wenn Sex ein Gut und sexu­elle Akti­vität benei­dens­wert ist, dann ist der Diskurs um die Jung­fräu­lich­keit auch ein Diskurs um Macht. Um die Macht eines (Hetero-)Mannes über eine Frau – und um die Vertei­lung der Macht unter den (Hetero-)Männern. Letz­teres ist vor allem bei Puber­tie­renden ein Problem: „Sexuell bereits aktive Männer werden in der Regel beneidet“, resü­miert Kunz. „Dabei spielt es keine Rolle, ob die Geschichten, die herumer­zählt werden, wahr sind.“ Bei vielen Jungs merke man, dass sie einfach eine grosse Klappe haben und den anderen nach­ei­fern wollen, sagt der Jugendpsychologe.

Diese Ange­berei ist nicht so harmlos, wie sie den Anschein macht. „Normierte Vorstel­lungen in Kombi­na­tion mit gegen­sei­tigem Bluffen führen zu schwie­rigen Dyna­miken“, weiss Psycho­the­ra­peutin D.D. . Das Problem liegt also eigent­lich bei den anderen Männern und nicht bei den Frauen, möchte man irgendwie in die Incel-Commu­nity hinein­rufen. „Diese Foren sind die Essenz und Ausdruck einer masku­linen Kultur, die proble­ma­tisch ist“, hält Spirig fest.

Dann seid doch wenig­stens nicht scheisse zueinander

Bedienen sich die Incels mit Verweis auf ihre unfrei­wil­lige Jung­fräu­lich­keit also eines Stell­ver­tre­ter­kon­zepts für etwas ganz anderes? Oder ist ihre Aggres­si­vität und ihr Hass mitunter eben auch Ausdruck der Tatsache, dass sie einer gesell­schaft­lich totge­schwie­genen, aber realen Gruppe ange­hören? Wieso begibt sich diese Gruppe dann nicht in einen offenen Dialog über toxi­sche Männ­lich­keit und den Druck, sexuell aktiv zu werden, statt online zu hassen und einander von der Minder­wer­tig­keit der eigenen Gruppe zu überzeugen?

„Die Leute sagen, eine Jung­frau zu sein sei nicht schlimm, aber im Streit ist es die erste Belei­di­gung, die sie gegen dich verwenden.“ In den Kommen­taren stimmen die anderen User zu — und hetzen gegen alle und sich selber. (Screen­shot von r/braincells)

Eine Studie aus Deutsch­land zeigt, dass der Wunsch von Jugend­li­chen nach Sexu­al­auf­klä­rung durch Eltern oder Schule eher abge­nommen hat, eine Mehr­heit der Jungen möchte den Infor­ma­ti­ons­be­darf zu Sexua­lität am lieb­sten via Internet decken,“ sagt Spirig. Der Austausch mit Gleich­ge­sinnten online könnte im besten Fall Infor­ma­tionen und Zuspruch bieten. Doch statt sich gegen­seitig aufzu­bauen, tram­peln die Incels aufein­ander herum. Sie bewerten ihr Aussehen und ihre Penis­längen mit dem einzigen Ziel, eine möglichst einfache Erklä­rung für ihre Jung­fräu­lich­keit zu finden. Das Konzept per se, der Druck an sich, die Proble­matik des Stigmas wird nicht thematisiert.

Ein fehler­haftes Konzept ist keine Entschuldigung

Jung­fräu­lich­keit ist ein Konzept, welches seit Jahr­tau­senden dazu verwendet wird, Frauen zu unter­drücken und ihre Körper zu kontrol­lieren. Wenn dieses Konzept von einer Männer­gruppe dahin­ge­hend verklärt wird, dass es sich wiederum in Miso­gynie und Gewalt entlädt, dann verdeut­licht dies eine Proble­matik, die das unvoll­stän­dige Konzept der Jung­fräu­lich­keit über­steigt. Dass dieses Konzept von der Incel-Commu­nity als Allein­stel­lungs­merkmal begriffen wird, verweist auf den konser­va­tiven und unauf­ge­klärten Grundton, der sich in diesen Foren findet.

Die Annahme liegt nahe, dass die meisten Incels mit weit mehr zu kämpfen haben als mit ihrer Jung­fräu­lich­keit. Diese dient bloss als Deck­mantel für etwas, was mit keinem Mass an sexu­eller Erfah­rung wett gemacht werden könnte. Trotzdem sollten wir uns alle von der Jung­fräu­lich­keit als Konzept verab­schieden und so als Gesell­schaft diesem kruden Welt­bild nicht in die Hände spielen. Jung­frauen sind Wesen aus der Mytho­logie. Sie gehören, wenn über­haupt, in Horo­skope und Stern­bilder – nicht in die Mitte des gesell­schaft­li­chen Diskurses über Sexua­lität, nicht in eine Waag­schale mensch­li­cher Werte und Tugenden. Und erst recht nicht in einen gesell­schaft­li­chen Grau­be­reich zwischen extre­mi­sti­scher Miso­gynie und Selbstmitleid.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 24 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1508 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!

Ähnliche Artikel

Revolte statt Rosen

Der 8. März wird vielerorts als „Hommage an das weibliche Geschlecht“ verstanden. Dabei wird die politische Dimension des Tages komplett ignoriert. Eine Chronologie von über hundert Jahren proletarischem, feministischem Kampf.